Pippi Langstrumpf könnte neidisch werden. Mit seinen kunterbunten Holzhäuschen entlang der hübschen Elk Avenue wirkt das Bergdorf Crested Butte fröhlich und freundlich, ohne viel Glitz und Glamour. “Anti Aspen” wird es manchmal genannt. Vielleicht, weil nicht Hollywood Filmstars und Regisseure, sondern viele Hippies und Aussteiger hierhergezogen sind. Großes Geld oder steile Karriere sind den Einwohnern schnuppe. Kettenhotels oder Burger-Buden mit denen ein schneller Dollar verdient werden könnte, gibt es in der Wildblumen Hauptstadt von Colorado nicht. Das Wildblumen Festival dagegen schon, und zwar jährlich.
Der Motor brummt, das Safarigefährt ist startbereit. Hochrädrig, mit drei Reihen aufmontierter Freisitze auf der geräumigen Ladefläche und freie Sicht nach allen Seiten. Am kornblumenblauen Himmel ist schließlich kein Wölkchen zu erspähen. Also sind die Insassen mit Sonnencreme, breitkrempigen Hüten, Moskitospray und — Botanisiertrommel bewaffnet.
Nicht auf Elefanten, Nashörner oder Löwen haben sie es nämlich abgesehen, sondern auf den Löwenzahn. Genau genommen eher auf dessen feine Verwandte, die nicht ungerechterweise als gemeines Unkraut verschrien sind, sondern als Wildblumen gefeiert werden. Wie die rundblättrige Glockenblume (Campanula rotundifolia) zum Beispiel, der kelchblütige Rittersporn (Delphinium nelsonii) oder die lavendelblaue Akelei (Aquilegia caerulea). Übrigens die offizielle Blume von Colorado, die hier im Westen des Rocky Mountain Bundesstaates heute ein Heimspiel hat und darum ganz oben auf der Liste der wild entschlossenen Blumenjäger steht.
Die hübsche Staudenpflanze mit den lustig nickenden Blüten denen sie ihren Spitznamen „Narrenkappe“ verdankt, ist das inoffizielle Maskottchen des Crested Butte Wildflower Festivals. Auf T-Shirts ist sie gedruckt, Babylätzchen, Lesezeichen und Häkelmützen. Allgegenwärtig ist die Akelei, die hierzulande übrigens Columbine heißt, wenn sich wie in jedem Sommer, in diesem Jahr vom 11. bis 20. Juli, wieder Hunderte von Wildblumen-Wallfahrern aus dem ganzen Land in diesem 1500-Seelen-Nest zu dem einwöchigen Spektakel versammeln – mit knapp 200 organisierten Wanderungen, Wagen-Touren und Workshops wie zum Beispiel Wildblumen-Aquarellmalerei und Fotografie, Wildblumen-Kochkursen und Rosenblätter-Eis-Parties, Wildblumen-Studienfahrten im Kanu, Identifizierung von Unkräutern, Gartenplanung, Gartenfesten und Gartenkonzerten.
„Die Erde lacht in Blumen“, schrieb der amerikanische Schriftsteller Ralph Waldo Emerson 1846. Herausplatzen würde wohl besser auf Crested Butte passen. Hier kichert Mutter Natur bis die Hochwiesen mit Stauden-Feuerkraut (Epilobium angustifolium) knallrot anlaufen. Sie gluckst in gelben Gauklerblumen (Mimulus guttatus) und prustet rosa, weiße und orange Castillejas hervor, die auf Englisch so passend Indian Paintbrush (Indianerpinsel) heißen, weil sie ganze Bergflanken lustig bunt anstreichen.
Die Passagiere im Pirsch-Mobil lassen sich von der guten Laune anstecken. Orgiastische ‚Ohs’ und ‚Ahs’ tönen von allen Sitzen sobald sich der Allradwagen eine weitere Korkenzieherkehre hinaufschraubt und den Blick auf eine neue Blumenaue preisgibt. Wenn man die Augen ein wenig zukneift sehen die zahllosen Farbpunkte vor dem satten grünen Hintergrund beinah wie ein unvollendetes Gartengemälde von Claude Monet aus.
Ungefähr vier Autostunden über kurvige Landstraßen südwestlich von Denver liegt Crested Butte mitten im Herzen der Elk Mountains, einem schwer passierbaren Höhenzug der Rocky Mountains. Wenn im Winter über sechs Meter Schnee fallen, ist die schmale Durchgangsstraße nur wenige Meilen hinter dem als Geheimtipp geltenden Skiort komplett gesperrt. Im Sommer sind die Pässe zwar allesamt frei, doch jenseits der schnellen Highways, liegt das viktorianische Minen-Städtchen trotzdem im Abseits der großen Touristenströme. Zufällig kommt hier selten jemand vorbei. Wer Crested Butte trotzdem entdeckt, bleibt oft hängen.

Jawohl, im Land der unbegrenzten Möglichkeiten wird zierlichen Bergblüten nicht nur mit schwergewichtigen Geländewagen nachgestellt, hier können sogar Wildblumen eine Hauptstadt haben. 1990 verlieh der Senat in Denver diesen Ehrentitel an Crested Butte. Seit Tausenden von Jahren blühten in den Bergen und Tälern um das Städtchen zahllose Arten von Flora in jeder Form und Farbe die „unsere Sinne betören,“ so das Komittee für Staatsangelegenheiten in seiner blumigen Begründung.
Im Gegensatz zu benachbarten Orten ist rings um das 2.700 Meter hoch gelegene Crested Butte ausreichend Feuchtigkeit vorhanden, so dass rund 300 Wildblumenarten hier auffallend üppig gedeihen. Denn die ungewöhnliche Ost-West-Ausrichtung der Elk Mountains hält den Winterschnee lange fest und schützt vor vorherrschenden Winden.
Außerdem funktioniert die dreiwöchige Monsun genannte Regensaison im Hochsommer mit heftigen Gewitterregen wie eine nachmittägliche Gießkanne. Ideale Bedingungen zum Auskundschaften von Columbine & Co. Eine lange Abhakliste wird im Festivalbüro verteilt, mit ueber 200 Bergblumen, die von Kursleitern unlängst bei Wanderungen identifiziert wurden. „Happy hunting,“ eine „glückliche Jagd“ hatte die ehrenamtliche Helferin noch am Info-Tisch gewünscht, bevor die Blumen-Safari startete.
Plötzlich tritt unser Fahrer und Führer auf die Bremse und deutet aufgeregt auf ein unscheinbares Pflänzchen mit schmutzigweissen etwa Daumennagel kleinen Blüten, das sich ins Zwielicht einer Wegkehre duckt. Mountain Death Camas oder Bergtod Jochblume (Zigadenus elegans) nennt sich das hochgiftige Gewächs. „Hände weg“, mahnt er eindringlich. Alle Teile der Lilienstaude enthalten eine Substanz die angeblich tödlicher sein soll als Strychnin. Schon zwei Knollen, roh oder gekocht, ergeben eine tödliche Dosis. Mit gezückter Kamera hatten seine Schützlinge sowieso eher an einen Augenschmaus gedacht.
Bildhübsch und gallig giftig. Zart und widerstandsfähig. Keine Raubkatzen, aber auch keine handzahmen Hauskater. Vielleicht begründen diese Gegensätze die besondere Faszination von Wildblumen, die so fragil erscheinen und dem rauen Gebirgsklima doch hartnäckig trotzen. Lee Renfrow, eine ehemalige Festival-Direktorin hat lange über die Faszinationskraft nachgedacht. „Die Perspektive verschiebt sich, wenn wir unser Gemüt beruhigen und eine einfache Blüte betrachten,“ sagt die stille grauhaarige Frau mit der sanften Stimme leise. „Dann erhaschen wir einen Blick vom Leben in all seiner Zerbrechlichkeit und Komplexität, seiner Schönheit und seiner Vergänglichkeit; und wir wissen, dass wir mit den Blumen verbunden sind und sie mit uns – wir in unserer Menschlichkeit und sie in ihrer Pflanzlichkeit – beides Ausdrücke des endlosen Kreislaufs der Natur.“
Photos: Crested Butte Wildflower Festival; Gunnison Crested Butte Tourism Association;