Old West Arizona

Geschichte und Legende, Wild-West-Mythos und das wahre Cowboyleben, die Abenteuer von Winnetou und Old Shatterhand, die Erzählungen von Charlie One Horse vom Stamm der Yaqui und die streng bewachte Grenze nach Mexiko: Im Südosten des US-Bundesstaates Arizonas verschmelzen Fantasie und Wirklichkeit. In Old West Arizona geht mancher Traum in Erfüllung – während für andere das Leben zu einem wahren Albtraum verkümmert.

Werfen wir zunächst einen kurzen Blick auf eine Stadt, in der der Wild-West-Mythos gepflegt wird, wie in keinem anderen Ort der Region: Legendäre Gunslingers wie Wyatt Earp, Doc Holliday, die Clantons oder die McLaury-Brüder sind in dem 1500 Einwohner zählenden Städtchen Tombstone allgegenwärtig. Am 26. Oktober 1881 lieferten sie sich einen tödlichen Schusswechsel. Der dauerte zwar nur eine knappe Minute. Dank eines Lokaljournalisten, der seinen Bericht über den Vorfall über eine Presseagentur an Zeitungen im ganzen Land verkaufte, sprach man bald weit über den damals noch wirklich wilden Westen hinaus über diese „Schießerei im OK Corral”. Daran hat sich ungezählte Artikel, einige Verfilmungen und 142 Jahre später noch immer nichts geändert – zumindest in dem eine halbe Autostunde von der mexikanischen Grenze entfernt liegenden Städtchen. Hier fahren noch immer Postkutschen, leichte Mädchen flanieren auf den Gehsteigen entlang und aus den Saloons klingt Pianomusik, während sich pockennarbige Wrangler in speckigen Mänteln an der Theke den Whiskey in die Kehle schütten. Einheimische wie Touristen laufen in Cowboystiefeln herum und binden sich ein Staubtuch um den Hals. Und: Mann trägt Hut. Macht er dies nicht, wird er sofort als Greenhorn entlarvt – zumindest bei Karl May wäre das so. Seine Winnetou-Romane spielen zum Teil in dieser staubtrockenen, kaktusbestandenen Heimat des Stammes der Apachen.

OK Corral

Dieser Gefahr wollen wir uns nicht aussetzen. Dem fast ausschließlich in der Vergangenheit lebenden Tombstone ziehen wir eine andere Stadt vor: Bisbee. Der Ort liegt kaum 20 Kilometer entfernt und hat dem “Grabstein”, wie Tombstone in der deutschen Übersetzung heißt, längst den Rang abgelaufen. Die Blütezeit von Bisbee, dem Verwaltungssitz des Cochise County, liegt allerdings ebenfalls schon einige Zeit zurück. Seine Geschichte ähnelt jener der kleinen Nester in der Nachbarschaft. Mit einem Unterschied: Die Kupfer-, Gold- und Silbervorkommen in dem heutzutage von 5500 Bewohnern zählenden Städtchen waren reichhaltiger. Noch heute zeugt das 274 Meter tiefe Loch der Lavender Mine am Ortsrand vom einst florierenden Kupfer-Tagebau. Benannt ist Bisbee zu Ehren des Finanziers der ersten Kupfermine, Richter Dewitt Bisbee. Anfang des 20. Jahrhunderts drängten sich hier fast 25.000 Menschen und versuchten ihr Glück zu machen. Als sich die Erzlagerstätten langsam erschöpften beziehungsweise deren Ausbeutung zu teuer und die Minen geschlossen wurden, ging die Bevölkerungszahl ab Mitte des 20. Jahrhunderts kontinuierlich zurück.

Bisbee

Inzwischen hat sich Bisbee, das ebenfalls nur 20 Kilometer von der Grenze zu Mexiko entfernt ist, neu erfunden. Die Einwohnerzahl konnte stabilisiert werden – auch weil viele Hippies aus Kalifornien die nun günstigen Grundstückspreise nutzten und sich hier ansiedelten. Stichworte wie Kultur und Moderne spielen nun eine große Rolle. Das 2013 erlassene Verbot von Plastiktüten oder die gegen den Widerstand der Staatsregierung ermöglichten Homo-Ehen sind dafür zwei Beispiele.

Ein anderer, bei dem Tradition und Mode in Einklang gebracht werden, ist der Hutmacher Grant Sergot. Er hat sein Geschäft in der Altstadt. Der kleine Laden ist eine Mischung aus Verkaufsraum und Museum. Optima Hatwork hält einen riesigen Fundus von 200 Hutmodellen bereit. Manche Holzformen in der für jeden Kunden einsehbaren Werkstatt sind 100 Jahre alt. Vom Panama-Hut bis zum Modell aus Biberfell – auf Wunsch mit Wildhaaren kombiniert – reicht das Angebot. „Für einen Hut sind fünf bis sechs Stunden Handarbeit nötig. Wegen der Trocknungszeiten kann man aber nicht dran bleiben”, erläutert uns der Meister, der als einziger seiner Zunft in Arizona noch die traditionelle Technik anwendet. Dieser hat sich Grant Sergot vor Jahrzehnten weitgehend selbst beigebracht. Die Cartwright-Familie in der legendären Fernsehserie Bonanza, die das Leben im amerikanischen Westen in den 1860er Jahre darstellt, hatte ihn auf die Idee gebracht, die schließlich sein Leben prägen sollte. Vater Ben, Familienoberhaupt und Besitzer der Ponderosa-Ranch, war in den mehr als 430 Teilen der Serie stets ebenso gut behütet wie seine Söhne Adam, Eric “Hoss” und Joseph “Little Joe”.

Grant Sergot

Für die modischen Kopfbedeckungen werden die Haare mit einem Dampfbügeleisen bei mehr als 50 Grad weich gemacht und zum Schluss mit Sandpapier aufgeraut. „Einen Hut zu pressen, ist nicht Sinn der Sache”, hebt er mit Blick auf billige Fabrikware hervor. Trotz des stolzen Preises von bis zu 750 Dollar – ein handgefertigter Panama-Hut geht für 2000 bis 3000 Dollar über den Ladentisch – verkauft Sergot nach eigenen Angaben 400 bis 500 Exemplare im Jahr. Die meisten davon sind Maßanfertigungen. Einen großen Teil seines Geschäftes machen Restaurierungen aus.

Wir entscheiden uns für ein Modell von der Stange und machen uns nun doch auf den Weg nach Tombstone, “the town too tough to die” – die “Stadt, die zu stark ist, um zu sterben”. Nachdem wir nun schon die passende Kopfbedeckung haben, halten wir bei der Bronco’s Trading Post an. Im Handumdrehen kleiden wir uns im Stil der 1880er Jahre ein und sind bereit zur täglichen Schießerei. Um Punkt 14 Uhr rauchen Tag für Tag am Rande des einstigen OK Corrals, die Colts und es pfeifen die Kugeln durch die Gegend. Dass sich in der Aufführung Wirklichkeit und Legende, Realität und Fiktion miteinander vermischen fällt nicht auf. Das Publikum ist auch nicht wirklich an den wahren Details der überlieferten Schießerei interessiert.

OK Corral

Auch uns interessieren andere Geschichten mehr, wenngleich deren Wahrheitsgehalt vergleichsweise gering sein dürfte. Die Rede ist von den Erzählungen des aus Sachsen stammenden Schriftstellers Karl May. Er hat etwa zu der Zeit als Tombstone seine erste Blüte erlebte, jene Westernhelden erfunden, mit denen im 20. Jahrhundert Generationen von Kindern und Jugendlichen in Deutschland aufgewachsen sind: Old Shatterhand und Winnetou. Da May nur einmal – lange nach Erscheinen der Romane – in Nordamerika weilte und dabei nicht weiter nach Westen kam als zu den Niagarafällen, ließ er seiner Fantasie freien Lauf. Viele seiner fesselnden Geschichten spielen im einstigen Apachenland und weckten bei seinen zahllosen Fans die Sehnsucht nach dem Wilden Westen. Dem berühmten Sachsen und seinen Geschichten wird hin und wieder eine Ausstellung im Tombstone Courthouse State Historic Park gewidmet, das mit dem Radebeuler Karl-May-Museum zusammenarbeitet.

Der Stamm der Apachen lebte in der Grenzregion zwischen Mexiko und der USA, die heute den Südosten Arizonas bildet. Wer könnte uns besser mit Leben und Kultur der nordamerikanischen Ureinwohner vertraut machen als ein Indianer? Wir treffen uns in Tombstone mit Charlie One Horse, um mit ihm in einem Kleinbus zu den am Horizont erkennbaren Dragoon Mountains zu fahren. Er ist zwar kein Apache, sondern gehört dem Stamm der Yaqui an. Charlie kennt sich aber in der Region, die auch unter dem Namen Cochise Stronghold bekannt ist, aus wie in seiner Westentasche.

Charlie One Horse

Wir befinden uns auf heiligem Indianerland, als wir eine Stunde später zwischen ockerfarbenen Granitmonolithen, die im hüfthohen Gras wie achtlos hingeworfene Riesenbauklötze liegen, hindurchwandern. Viele in der Gruppe richten den Blick sorgenvoll nach unten. Doch nicht einmal das Rasseln der hier weit verbreiteten Klapperschlangen ist zu hören. Stattdessen entdecken wir rätselhafte Felszeichnungen und stärken uns in deren Schatten bei einem typisch indianischem Lunch mit gewöhnungsbedürftigem Geschmack: Agavenstücke und getrocknetes Fleisch.

Am Fuße des Council Rocks erzählt uns der Yaqui, wie es den Apachen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ergangen ist. Cochise, Häuptling der Chiricahua-Apachen und Namensgeber für das heutige Cochise-County im Südosten Arizonas, versteckte sich in dieser 300 Meter über dem Tal gelegenen uneinnehmbaren Bergfestung mit etwa 1000 Gefolgsleuten 15 Jahre lang vor der US-Armee. Von dem Plateau aus reicht der Blick gen Süden bis zur Grenze nach Mexiko, wo sich heute illegale Einwanderer an der mit hochentwickelter Technik stark gesicherten Grenze ein ähnliches Katz-und-Maus-Spiel mit den US-amerikanischen Behörden liefern. Hiervon bekommt der in Wild-West Romantik versunkene Tourist nicht viel mit. Wer aber in eine Polizeikontrolle gerät oder auch nur Augen und Ohren offenhält, wird selbst zig Kilometer von Mexiko entfernt dieser Grenze gewahr. Bewegungssensoren in trockenen Flusstälern oder aber hochgerüstete Überwachungsdronen, die bei geringem Wind am Himmel kleben, sind nur Beispiele dafür. Sie machen aber deutlich, dass im Arizona des Jahres 2015 nicht alles Fiktion ist, was man hier zu hören oder sehen bekommt – Träume und Albträume eingeschlossen.

Old West Arizona

Photos: Beate Kreuzer; Arizona Office of Tourism; Visit Tucson; Visit Sierra Vista;


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